Man wächst mit seinen Aufgaben

09.04.21

Es war an einem Tag Ende Juni, am Freitag, den 26.06.2020, als sich unser Leben von einem Tag auf den anderen komplett änderte. Eine Woche davor war alles noch absolut normal, soweit es zu Corona-Zeiten normal sein konnte. Die „Probleme“, die ich bis dahin als wichtig erachtete (Corona, Schulprobleme, etc.) wurden mit einem Schlag unwichtig.

Unser damals 12-jähriger, sehr aktiver, witziger, liebenswürdiger Sohn bekam die Diagnose Leukämie, genauer gesagt eine akute lymphatische T-Zell-Leukämie mit Mediastinaltumor.
Es fing damit an, dass er ein paar Tage zuvor fragte, was er denn da für „Kugeln“ am Hals hätte. Ich habe den Hals abgetastet und gesagt, es seien nur geschwollene Lymphknoten, es sei nichts Schlimmes, vielleicht eine kleine Infektion. Diese “Kugeln“ waren 3-4 Tage später deutlich größer, also sind wir zur Kinderärztin gegangen. Sie äußerte den Verdacht eines Pfeifferschen Drüsenfiebers, nahm aber zur Sicherheit noch Blut ab, falls es etwas anderes war. Später, als die Diagnose feststand, sagte sie, dass sie gehofft hatte, es wäre das Pfeiffersche Drüsenfieber, aber dass sie schon etwas Bösartiges vermutet hatte, nämlich ein Non Hodgkin Lymphom. Am nächsten Tag rief sie uns an und sagte, dass es leider kein Pfeiffersches Drüsenfieber sei, und dass wir direkt für den nächsten Morgen einen Termin zur weiteren Abklärung im Schwabinger Krankenhaus hätten. An dem Abend war sein Hals mittlerweile auf fast 1,5x seiner ursprünglichen Größe knotig angeschwollen, auch am oberen Brustkorb hatte er mittlerweile mehrere dick tastbare Knoten. Außerdem hatte er das Gefühl, schlechter Luft zu bekommen, darum habe ich ihn in unserem Bett schlafen lassen, um ihn über Nacht im Auge zu behalten und habe in dieser Nacht kein Auge zu gemacht (auch in vielen anderen Nächten nicht seitdem). Stattdessen habe ich verzweifelt gegoogelt, was es sein könnte… das hatte ich mich die Tage davor nicht getraut, aus Angst etwas Schlimmes zu lesen. Insgeheim wusste ich schon, dass ein Virus die Lymphknoten nicht so rasant wachsen lässt.

„Unser Sohn sagte kein Wort“

Am nächsten Morgen waren wir dann in der Klinik, wegen Corona mussten wir uns bei einem „Türsteher“ melden, unser Name stand auf einer Liste, also durften wir rein.
In der Kinder-Poliklinik arbeitet eine sehr liebe Freundin von uns als Leitung, mit ihr hatte ich am Abend schon telefoniert und gesagt, dass wir kommen und warum. Sie hat uns gleich in Empfang genommen und in einen Untersuchungsraum geführt. Unser Sohn war mittlerweile sehr still, er sagte kein Wort. Eine nette junge Ärztin kam und untersuchte ihn, stellte viele Fragen und nahm eine Menge Blut ab. Dann folgten mehrere Untersuchungen: Ultraschall vom Hals-/Bauchraum, Röntgen vom Brustkorb, HNO-Untersuchung und ein CT, dann ein Ultraschall vom Herzen. Und eine Lymphknotenentnahme in Lokalanästhesie. Dann saßen wir wieder im Untersuchungszimmer und warteten. Meine Freundin war nirgends zu sehen, ich vermutete, dass sie schon etwas wusste und nicht mit uns sprechen wollte, bevor die Ärzte mit uns gesprochen hatten.

„Unter uns tat sich der Boden auf…“

Es waren drei Ärztinnen, die zu uns kamen, die junge Assistenzärztin vom Anfang und 2 Oberärztinnen, auf ihrem Namensschild stand Kinderonkologie…, mir war schwindlig, ich wollte gar nicht hören, was sie zu sagen hatten, aber es führte kein Weg daran vorbei. Hinter den Ärztinnen tauchte ein etwas kleinerer, nett aussehender Mann auf. Mein Mann saß bei unserem Kind auf der Liege, ich saß auf einem Stuhl, unser jüngerer, 10-jähriger Sohn war in der Zwischenzeit von meinem Schwager abgeholt worden, unter uns tat sich der Boden auf…

Die Ärztinnen sagten, dass sich ihr erster Verdacht bestätigt hätte, dass er vermutlich ein Non Hodgkin Lymphom mit Mediastinaltumor hätte. Sie sagten noch sehr viel mehr, mein Mann und ich sind eigentlich beide medizinisch vorgebildet, er ist Anästhesist, ich bin Intensivschwester. Wir haben in dem Moment beide gar nicht mehr begreifen können, was plötzlich los war, was sie sagten… Unser Sohn hat gar nichts gesagt. Ich habe versucht ihm zu erklären, dass er schwer krank ist, dass er einen Tumor hat, dass wir das aber alles schaffen werden, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche. Das Wort Krebs konnte ich nicht in den Mund nehmen…wir umarmten beide unser Kind und sagten immer wieder, dass wir das alles schaffen werden. Dann tauchte auch unsere Freundin wieder auf, mit verweinten Augen, wir umarmten uns auch und weinten zusammen. Der nett aussehende Herr stellte sich vor: Herr Stamm vom psychosozialen Dienst. Er war sofort eine Stütze für uns, die Ärztinnen waren mittlerweile weg, ich stellte ihm viele Fragen, kann mich gar nicht mehr genau erinnern, was genau…wir wussten gar nicht, wie es weitergehen sollte, er begleitete uns mehrere Stunden. Ich war wie in einer dicken Wolke, habe wenig verstanden und mich immer wieder gefragt, auch Wochen später, ob das alles wahr sein kann.

Unser Sohn musste sofort stationär bleiben, zum Glück gab es die Möglichkeit, dass einer von uns Eltern mit ihm zusammenblieb. Wir einigten uns darauf, dass es mein Mann sei, wir durften danach wöchentlich wechseln. Wir bekamen alle drei einen Corona-Abstrich, unser Sohn, mein Mann und Herr Stamm gingen auf die kinderonkologische Station, ich bin völlig aufgelöst zum Auto gegangen, habe meinen Vater angerufen und alles erzählt, dann meinen jüngeren Sohn bei meinem Schwager abgeholt. Dort waren mein Schwager, mein Sohn, meine Nichte und mein Neffe. Ihnen habe ich auch erzählt, was los war, behutsam, aber alle Kinder und auch ich mussten weinen. Auf der Heimfahrt – wir wohnen etwa eine Stunde von der Klinik entfernt – und auch zuhause überkamen mich heftige Wein-Attacken. Ich habe sie auch heute noch, nur nicht mehr so oft wie am Anfang.

„Ich befand mich wie in einem Strudel, der mich nach unten zog“

Am nächsten Tag hatte er eine Knochenmarkpunktion und eine Rückenmarkpunktion, um ganz genau festzustellen, was er hatte. Am Dienstag darauf hatten wir ein ausführliches Gespräch mit der Oberärztin Dr. Wawer, der Stationsärztin Dr. Gall und Frau Hampel vom psychosozialen Dienst. Wir erfuhren, dass es kein Lymphom war, sondern Leukämie, der Befund ergab sich aus der Anzahl der Leukämiezellen im Knochenmark. Wir erfuhren, wie die Therapie in den nächsten zwei Jahren in etwa aussehen würde, ich befand mich wie in einem Strudel, der mich nach unten zog. Sechs bis neun Monate Intensivtherapie mit vielen stationären Krankenhausaufenthalten, vielen Chemos, vielen Punktionen, zwei kleineren Operationen, um einen zentralen Venenkatheter einzulegen/herauszuholen- den sogenannten Hicki (Hickman-Katheter) lagen vor uns. Danach noch eineinhalb Jahre Tabletten-Chemo…ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten war.

Zu allem Überfluss durfte ich die erste Woche meinen Sohn nicht besuchen, die Corona-Regeln erlaubten leider nur ein Elternteil pro Woche zu Besuch. Da mein Mann die erste Woche mit ihm stationär war, blieb mir nur, mit ihm zu telefonieren oder per Video sprechen. Ich war zuhause völlig aufgelöst, mein anderer Sohn Alex war in dieser Zeit ganz besonders lieb und rücksichtsvoll.
Nach einer Woche und zwei Tagen konnten mein Mann und ich wechseln, ich durfte stationär bleiben, nachdem ich am Vortag einen Corona-Abstrich gemacht hatte. Unser Kind und ich waren allein im Zimmer, das war schön für uns. Mir ging es dann auch deutlich besser, als ich bei ihm sein durfte und nicht eine schmerzliche Woche von ihm getrennt war.

Das Pflegepersonal auf der Station war sehr nett, sehr kompetent und einfühlsam, man merkte ihnen die Erfahrung in solchen Ausnahmesituationen an. Nach wenigen Tagen hatte ich mich an den Tagesablauf gewöhnt. Die liebe Erzieherin, Frau Stritzl-Goreczko kam fast jeden Tag zu uns, mein Sohn fühlte sich mit seinen 12 Jahren etwas zu alt für sie, aber mit mir führte sie immer wohltuende Gespräche, sie brachte uns auch immer wieder tolle Sachen: Eiswürfel, als es über 30 Grad heiß war, bequeme Sessel für das Zimmer und den Balkon, etwas zum Spielen, ein IPad…

Durch die Corona-Maßnahmen fanden leider viele Aktivitäten für die Kinder gar nicht statt. Am Anfang gab es keine Veranstaltungen, man konnte auch keine anderen Kinder oder Eltern kennenlernen, sondern musste streng in seinem Zimmer bleiben, es fühlte sich bald an wie Einzelhaft. Auch auf dem Balkon konnte man andere nur von Weitem sehen. Nach einigen Wochen durfte man wenigstens das Essenstablett nach dem Essen rausbringen (eigentlich hat man sehr viel Zeit und hätte dem Pflegepersonal gerne zumindest dabei etwas Arbeit abgenommen). Die Highlights des Tages im Stationsalltag waren der Besuch der Sporttherapeuten, der Besuch der Physiotherapeutin und der Krankenhauslehrerin (die im Verlauf leider auch nicht mehr ins Zimmer kommen durfte, der Unterricht hat dann online stattgefunden, das hat aber sehr gut geklappt). Wir haben uns zeitweise echt einsam gefühlt und sind bei jedem „klick“ der Tür vor Erwartung zusammengefahren, weil wir dringend soziale Kontakte und Ablenkung brauchten.

Mit der Zeit wird man zum Profi.
Die ersten Wochen waren emotional sehr hart, die Diagnose und die Therapie hat uns in der Familie alle verändert. Aber irgendwie wächst man nach Monaten in diese Situation hinein und wird zum Profi.
Nach den ersten stationären Wochen galt es, den Alltag zuhause zu bewältigen, mit vielen Hygieneregeln und Ernährungsregeln. Auch das haben wir geschafft.

Es gab immer wieder starke Nebenwirkungen der Therapie und auch Rückschläge, wo unser Sohn außerplanmäßig für einige Tage in die Klinik musste, aber hauptsächlich lief die Therapie dann über die Tagesklinik. Zeitweise waren wir täglich oder alle zwei Tage da, zur Blutabnahme, Chemo, Transfusionsgabe, Rückenmarkspunktion, Untersuchungen, Verbandswechsel etc. Dort war es etwas lockerer, man durfte zu dritt (drei Kinder mit je einem Elternteil) mit Abstand im Wartezimmer sitzen. Es waren meistens immer wieder dieselben Familien, so dass man sich endlich mal mit anderen Betroffenen austauschen konnte. Das hat sehr gutgetan, man hat gemerkt, dass man nicht alleine ist. Auch in der Tagesklinik war das Pflegepersonal sehr zuvorkommend und kompetent, und hat uns mit dieser netten Art die sehr häufigen Besuche dort irgendwie leicht gemacht.

In dieser Zeit haben wir einige Kinder den Gong schlagen gehört, was bedeutet, dass sie mit der Akutphase der Therapie, der Intensivtherapie fertig waren!

Nach 241 sehr kräftezehrenden Tagen durfte unser Sohn dann auch endlich den Gong schlagen!

Jetzt sind wir 1x pro Woche oder alle zwei Wochen in der Erhaltungstherapie-Sprechstunde, da wird die wöchentliche Chemo-Dosis (nur noch Chemo-Tabletten) anhand der Blutwerte eingestellt. Unserem Sohn geht es jetzt seit einigen Wochen zunehmend besser, physisch und psychisch! Nächste Woche kommt der Hickman-Katheter raus. Er kann langsam wieder ein normaler 13-Jähriger werden!

Am Anfang steht man vor einem riesigen Berg, den erklimmt man nur in kleinen Schritten, jetzt gehen wir mit größeren Schritten Richtung Ziellinie, noch ein Jahr und drei Monate Tabletten-Chemo/ Erhaltungstherapie…

Wir als Eltern fühlen uns sehr erleichtert und sind sehr stolz auf unseren Sohn. Er hat unheimlich viel ertragen, war immer geduldig und hat sein liebes Wesen in der Zeit nicht verloren! Richtig freuen können wir uns aber nicht, denn es bleibt immer noch das Rezidivrisiko, das uns Tag und Nacht verfolgt, aber auch damit werden wir lernen zu leben…

Wir wachsen mit unseren Aufgaben!