Elternbericht
Im Juni wird unsere Tochter Flavia 15. Ihre Geburtstage sind für mich jedes Jahr wieder ein kleines Wunder. Sie war sechs Monate alt, als bei ihr ein Non-Hodgkin Lymphom diagnostiziert wurde, ein sehr ungewöhnlicher Tumor im Babyalter. Auf der Kinderkrebsstation des Schwabinger Krankenhauses hatte es noch keinen vergleichbaren Fall gegeben. Für unsere Familie begann die schwere Zeit mit Hoffen und Bangen mit Auf und Ab.
Nach 15 Jahren Botschafterin auf der Kinderkrebsstation
Das alles liegt nun lange hinter uns und Flavia ist ein topfittes, sportliches Mädchen voller Ideen und Lebensfreude. Lediglich ihre OP-Narben sind Zeugen von ihrem schweren Start ins Leben. Seit jener Zeit bin ich mit der Initiative krebskranke Kinder München e.V. eng verbunden. Als Flavia ihre Chemo beendet hatte, übernahm ich zunächst Aufgaben im Büro der Initiative, dann engagierte ich mich bei verschiedensten Veranstaltungen um Spenden und Sponsoren zu akquirieren. Gleichzeitig unterstützte ich den Vorstand, sozusagen als „freie Mitarbeiterin“. Vor rund 3 Jahren kam dann die Idee der „Botschafter“ auf Station auf. Einerseits fand ich die Idee sehr gut, andererseits war ich mir nicht sicher, ob ich es mir wirklich zutrauen würde, wieder regelmäßig auf die 24d zu gehen und direkt mit den kranken Kindern und den Schicksalen der einzelnen Familien konfrontiert zu werden. Könnte ich für die jetzt Betroffenen wirklich eine hilfreiche Ansprechperson sein?
Neu auf Station
Ich versuchte mich zurückzuversetzen in meine Gefühlswelt, als wir damals ganz neu auf Station kamen und unser Leben von einem Moment auf den anderen eine völlig neue Wendung genommen hatte. Dabei wurden mir vor allem zwei Dinge nochmal sehr bewusst:
Ich erinnerte mich daran, wie wir nach der anfänglichen Schockstarre verzweifelt versuchten „ähnliche Fälle“ zu finden, bei denen die Behandlung erfolgreich verlaufen war. Wir wollten unbedingt einen Hoffnungsschimmer und eine Perspektive. Würde unsere Tochter je ein normales Leben führen können? Würde unsere ganze Familie (wir haben in der Zwischenzeit vier Kinder) je wieder unbeschwert und glücklich lachen können? Endlich fanden wir über eine befreundete Onkologin in Italien einen vergleichbaren Fall. Sie blieb während der gesamten Behandlungszeit eine vertrauensvolle Ansprechpartnerin und ein Anker für uns.
„Wo ist eigentlich das reale Leben?“
Und noch ein Gefühl kam mir besonders in Erinnerung. Ich fühlte mich total abgekoppelt von unseren Freunden und unserem sozialen Umfeld (damals durfte man noch nicht mal Handys auf Station haben!) Zu Beginn der Therapie war ich mit Flavia mehrere Wochen auf der Station. Da ich sie noch stillte, wohnte ich mit dort. Mein Mann stemmte den Spagat zwischen Arbeit, den älteren Geschwistern und Besuchen im Krankenhaus. Unser tägliches Leben war ein völlig anderes geworden. Unsere Freunde hatten uns zwar viele liebe Briefe geschrieben und uns Hilfe angeboten. Das hat auch sehr gut getan. Trotzdem empfand ich es zunehmend schwieriger meine stetigen Sorgen und Ängste, die organisatorischen Probleme, aber auch unsere kleinen Freuden über „gute Leukos“ oder Flavias gestiegenen Appetit mit ihnen zu teilen. Ich hatte das Gefühl, dass all dies für sie völlig fremd ist und ich spürte ihre Unsicherheit im Umgang mit uns. Manchmal fragte ich mich: „Wo ist eigentlich das reale Leben? Hier in diesem Krankenhaus, oder da draußen ein paar Straßen weiter?“
Diese Rückschau bewegte mich dann dazu als Botschafterin auf Station zu gehen und mit den Familien in Kontakt zu kommen, die jetzt eine so schwierige Zeit durchstehen müssen. Seither bin ich sehr vielen Kindern, Jugendlichen, Eltern, Großeltern und Betreuern begegnet. So unterschiedlich auch die Krankheitsbilder und -verläufe und so individuell doch auch jede einzelne Familie ist, so fühle ich mich nach den Gesprächen, doch mit jedem einzelnen sehr verbunden. Ich spüre ihre Dankbarkeit über die Anteilnahme an ihrem Schicksal, über die Möglichkeit ihren Gefühlen auch mal freien Lauf lassen zu können, über das Verständnis für ihre Situation und über das bisschen Zeit und Abwechslung, das ich ihnen geben kann. Auch wenn ich mancher Familie nur einmal begegne, so trage ich sie dann doch in meinem Herzen und meinen Gedanken. Am meisten hoffe ich, dass für sie unsere Begegnungen ein positiver Moment sind; vielleicht eine Perspektive oder eine kleine Brücke in die Zeit nach der Behandlung, ein erster Schritt zurück ins „normale“ Leben.
Ich denke, dass alle, die jemals direkt oder indirekt betroffen waren, ihre inneren Werte verändert haben und vielleicht ein bewussteres und intensiveres Leben führen als zuvor. Wenn ich nach einem Abend auf Station die Klinik verlasse, denke ich oft, wie banal doch meine jetzigen kleinen Sorgen in einem oft hektischen Alltag sind.Und dann sage ich mir:
„Wie schön ist doch das Leben mit deinen Kindern! Genieße und erlebe bewusst jeden Moment!“
Flavias MUtter