Ludwig

Persönliche Erfahrungen

Sehr schlimm für uns war die Wesensveränderung unseres kleinen Sohnes in den letzten Wochen seines Lebens. Vor allem nach der dritten und letzten Tumoroperation am Kopf war er von einem Tag auf den anderen wie verwandelt. So fröhlich, lustig, witzig und kontaktfreudig er zuvor war, so still, abweisend, in sich gekehrt und traurig war er danach. Wir erkannten ihn kaum wieder. Wir glaubten aber lange Zeit, dass es nur ein vorübergehender Zustand sein würde.

 

»Du mußt doch nicht weinen«

Sein einziger und wichtigster Satz in dieser traurigen Zeit, war »lass mich in Ruhe«. Leider haben wir es manchmal zu wenig respektiert und meinten, wir müssten ihn aufheitern. Das war ein großer Fehler, mit dem ich heute manchmal noch zu kämpfen habe. Auch in der Klinik hat ihn niemand in Ruhe gelassen, selbst dann nicht, als man wusste, man kann medizinisch nichts mehr für ihn tun.

Sehr beeindruckt hat mich die Beobachtung, dass Ludwig in den letzten Wochen und Tagen seines kurzen Lebens nichts mehr von einem Kleinkind hatte, sondern so weise, überlegen und reif wurde. Er tröstete mich, als ich an seinem Bett weinte, mit den Worten, »Mama, Du mußt doch nicht weinen«.

An diesem Tag begriff ich, dass er schon lange auf das Sterben vorbereitet war. Ich wusste in diesem Augenblick noch nichts von der vernichtenden Diagnose. Die bekamen wir erst zwei Tage später. Durch seine Ruhe und den Frieden, den er ausstrahlte, machte er mir aber deutlich, dass er bereits viel weiter war als wir Eltern. Wir hofften noch immer auf ein Wunder, aber unser kleiner Sohn schien geduldig darauf zu warten, bis auch wir begreifen würden, dass seine Zeit nun gekommen war.

Er war uns in diesen Tagen so überlegen, aber das verstanden wir erst viel später, eigentlich erst nach seinem Tod. Als wir zwei Tage später von den Ärzten endgültig erfuhren, dass nichts mehr zu machen ist, war meine größte Angst, dass es ein langsamer, qualvoller Tod werden würde. Niemand konnte uns sagen, wie lange es dauern würde. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Ich fuhr sogar nochmal nach Hause (mein Mann blieb bei Ludwig), um den anderen Kindern zu sagen, dass Ludwig nun nicht mehr heimkommen würde.Ich kam dabei nie auf den Gedanken, dass ich es nicht schaffen könnte, rechtzeitig bei meinem Kleinen zu sein, wenn es zu Ende gehen würde.

Aber es war fast so, als hätte Ludwig darauf gewartet, sterben zu können. So ungefähr: »Jetzt wissen Mama und Papa auch, dass man mir nicht mehr helfen kann, jetzt muß ich nicht mehr warten.« 11 Stunden nach dem letzten Gespräch mit den Ärzten ist er ganz ruhig und friedlich und vor allem ohne Angst und Todeskampf gestorben. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Dann war einerseits die Erleichterung, dass es nun vorbei war, dass er nicht mehr leiden musste und dass alles so schnell gegangen ist. Andererseits diese Panik, die einen überfällt, wenn man so machtlos ist und den Tod einfach so hinnehmen muß.

Ich habe mir immer vorgestellt, wenn mein Kind eines Tages sterben muß, dann in meinen Armen. Aber unser Kleiner wollte es nicht. Er wollte überhaupt keine Zärtlichkeiten, keinen Körperkontakt mehr. Das war sehr, sehr hart für uns als Eltern, aber ich bin heute froh, dass ich es akzeptiert habe und ihn nicht gezwungen habe, in meinem Arm zu liegen. Ludwig brauchte den Abstand, um sich rechtzeitig von uns zu lösen, vielleicht um uns das Auseinandergehen leichter zu machen.

Gott sei Dank haben wir erkannt, dass wir ihn loslassen und gehen lassen müssen.
In Frieden!