Giannina

Elternbericht
Mutperle für Chemotherapien
Mutperle nach einer Chemotherapie

Hallo, Ich würde gerne »unsere Geschichte« erzählen. Manchmal hilft mir das Schreiben. Ich fang einfach mal an:

Na, wenn ein Arzt das sagt!?

Bis zum Sommer 1997 war für mich die Welt, meine Welt noch in Ordnung. Ich hatte einen tollen Mann, meine Kinder, meine Familie und eine Mutter die ich über alles liebte. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass sich daran einmal etwas ändern würde.

 

Meine große Tochter, Giannina, bekam bevor wir in den Urlaub fliegen wollten Schmerzen im Bauch. Na prima dachte ich, so etwas fehlt ja gerade jetzt! Ich bin mit ihr zu meiner Kinderärztin gegangen und die hat uns nach einer Blutuntersuchung ins Krankenhaus geschickt – Verdacht auf Blinddarmentzündung! Der Arzt, der dann dort eine Ultraschall-Untersuchung machte, erzählte mir was von Magen-Darm-Virus und dass das Kind Joghurt essen müsse. »Dann geht das schon wieder weg«.
Na, wenn ein Arzt das sagt!?
Das tat es dann auch!

Blutwerte

Was unsere Kinderärztin beunruhigte waren die Blutwerte. Der CRP war bei Gianninna extrem hoch. Es dauerte auch nicht lange, da kamen die Schmerzen wieder und wieder landeten wir im Krankenhaus. Neuer Arzt… neue Diagnose. Blasenentzündung! Eine dicke Erklärung folgte und ich konnte mit dem Kind nach Hause gehen.

Na, wenn das ein Arzt sagt!?

Die Kinderärztin wollte uns aber nicht in den Urlaub schicken, ohne vorher noch einmal ein Blutbild zu machen. Gesagt, getan und die Werte waren wieder o.k.

Na dann – Schönen Urlaub!

Vier Wochen Türkei standen vor der Tür und wir alle freuten uns riesig. Giannina, damals fünf Jahre alt, ging es wieder ausgezeichnet und Cheleesa, unserer jüngeren Tochter, sowieso. Das war im Juli. Wir feierten den 3. Geburtstag der Kleinen am Strand und alles war in Ordnung.

Doch dann kamen wieder die Schmerzen bei Giannina. Diesmal aber nicht im Bauch, sondern (immer irgendwo anders) jetzt in der Schulter. Giannina hatte den ganzen Tag Steine ins Meer geworfen und wir dachten, dass sie sich dabei vielleicht zu sehr angestrengt hatte; bisschen Salbe drauf und am nächsten Tag war es wieder gut. Dann kamen die Beine dran… na ja, wenn ein kleines Kind den ganzen Tag umher rennt und ununterbrochen gegen die Wellen im Meer »ankämpft«, kann so etwas schon mal vorkommen und was tut man? Man sorgt dafür, dass das Kind mal ein wenig kürzer tritt! Schwups war wieder alles in bester Ordnung. Giannina ist ein sehr »zartes« Kind und uns allen fiel ja auch immer eine Erklärung, ein Grund für diese Zipperlein ein. Bis die Schmerzen im Bauch wieder kamen und sie zusehends in sich zusammen fiel. Mein Schwager rief zusammen mit dem Hotelbesitzer mitten in der Nacht einen Arzt an und der empfahl uns dringend nach Deutschland zurück zu fliegen. Ich hab noch nie in meinem Leben so schnell Koffer gepackt – hinein ins Auto und wir standen am Flughafen.
Mein Mann ist gleich als wir zu Hause waren mit Giannina ins Krankenhaus gefahren. Neuer Arzt… neue Diagnose. Leistenzerrung! »Gönnen sie dem Kind mal etwas Ruhe, das wird dann schon wieder!«

Na, wenn ein Arzt das sagt!?
Das tat es dann auch!

Giannina kam in die Vorschule und wieder war für einige Zeit alles in bester Ordnung. Für einige Zeit…
Als ich das nächste Mal mit ihr im Krankenhaus war, kam ich mir schon dämlich vor. Neuer Arzt… neue Diagnose. Blinddarmreizung! »Das sieht man ganz deutlich auf dem Ultraschall… gucken sie mal!« Ich guckte, sah nix…

aber wenn ein Arzt das sagt!? Wird schon stimmen!
Das tat es dann auch!

Das nächste Mal – im September!

Unsere Ärztin war im Urlaub und der Arzt, der mit ihr zusammen in der Praxis arbeitete, machte nun Nägel mit Köpfen: »Ich weise Giannina jetzt ins Krankenhaus ein, dann MÜSSEN die was machen!!« So froh wie ich war, dass jetzt endlich was passieren würde, dass Giannina geholfen werden sollte, soviel Angst hatte ich auch vor dem, was die Ärzte finden würden, was sie tun würden. Blinddarm…

HIMMEL, mein Kind im OP!!

Das war für mich das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Ich habe den Gedanken wegschieben müssen. Mein Kind im OP.. lieber Gott, laß es keine Blinddarmentzündung sein!!
Ich weiß noch, dass ich meinen Mann anrief und dafür sorgte, das Cheleesa untergebracht war: Dann fuhr ich mit Giannina ins Krankenhaus. Wieder landeten wir beim Ultraschall. Wieder eine plausible Erklärung? Und wie:
»Ihre Tochter hat da zwei dicke Dinge an der Niere!« AHA… und nun? Ich habe es nicht registriert oder wollte es nicht. Die Reihenfolge der Untersuchungen weiß ich nicht mehr… kam zuerst die Blutuntersuchung und dann die Szintigraphie oder erst das MRT und dann die Blutentnahme? Ich hab´s vergessen. Wir haben Stunden bei irgendwelchen Untersuchungen verbracht. Ein Arzt kam mit Gianninas Unterlagen, setzte sich neben mich und fragte: «WO hat ihre Tochter die Tumore?« Ich dachte, ich falle mich von Hocker! Ich hab ihn angeguckt und gefragt: «Wo hat sie bitte… WAS?« Genau in diesem Augenblick wurde ihm wohl klar, dass er einer Nichts wissenden Mutter gegenüber saß und weg war er.

Die Augen der Ärzte

Was ich nicht vergessen habe sind die Augen der Ärzte auf der Kinderstation. Ihre Blicke sagten mehr als Worte! Mittlerweile war auch mein Mann bei uns und eine Ärztin bat uns um ein Gespräch. Es gibt im Blut Werte, sogenannte Tumorwerte, und diese seien bei Giannina erschreckend hoch, erklärte sie uns. Man müsse weitere Untersuchungen machen um sich ein klares Bild zu verschaffen und darum sei es ratsamer, wenn man Giannina in die Obhut der Kinderkrebsstation geben würde. Irgendwie sind wir dann da gelandet. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnten… alle waren sich über die Diagnose schon einig, nur wir waren noch total unwissend.

Als Giannina ihr Zimmer zugewiesen bekommen hatte, bat man uns den Oberarzt aufzusuchen…
Er wollte sich mit uns unterhalten. Da saßen wir also…
er sah uns an und sagte: »Ihre Tochter hat ein Neuroblastom!«

AHA…
und nun?

Er wartete einige Minuten, sah uns an und erhoffte sich wahrscheinlich, das wir verstehen, was er da sagt. Wir taten es nicht! Dann kam seine Erklärung: Stadium 4, der Tumor drücke sich durch die Wirbelsäule, bösartiger Krebs, Metastasen im gesamten Nervensystem…

Tod, Tod, Tod!!

Hatte ich noch nie in meinem Leben das Wort Neuroblastom gehört, war ich innerhalb von ein paar Minuten vollkommen im Bilde was es zu bedeuten hatte. Jeden Satz, den dieser Mann hinter sich brachte drang mehr und mehr wie durch Nebel zu mir. Anderer Leute Kinder bekommen Krebs dachte ich noch… nicht meins! Anderer Leute!!

Aus irgendeinem Grunde schien es für uns wichtig, wie hoch ihre Überlebenschancen waren… 70% bei Leukämie, das wußte ich. Was ich damals nicht wußte war, das sie einem nichts nützen diese 70% wenn dein Kind zu den 30 % gehört, die sterben müssen! Und doch schien sie irgendwie wichtig für uns zu sein, diese Prozentzahl. Erst sträubte sich der Doc, erzählte was von… »Kann man nicht verallgemeinern« und doch hatten wir ihn irgendwann so weit: 5%… MAXIMAL!

Ich bin von diesem Stuhl hochgesprungen und losgerannt… bin 4 Etagen die Treppen runter und unten in der Eingangshalle zusammengebrochen. Ich hab gedacht mein Herz würde aus meiner Brust springen… ich hab keine Luft mehr bekommen und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lieber Gott, hilf uns! dröhnte es in meinem Schädel.
Zuletzt stirbt die Hoffnung?
Ich habe schnell begriffen, das zuerst der Glaube stirbt!

9. September 1997

das war der Tag, an dem die Angst in mein Leben trat. Meine Familie war genau so sprachlos und traurig wie wir und doch war sie es, die uns Halt gab. Meine Mutter erklärte sich sofort bereit, zu mir nach Hause zu kommen und auf Cheleesa aufzupassen. So konnten mein Mann und ich bei Giannina im Krankenhaus sein. Nach 5 Tagen fuhr ich das erste mal zu Mutter und ich weinte, weinte, weinte und weinte. MEIN Kind hat Krebs!! Sie saß nur da und hörte mir zu… hörte mir zu, wie ich Gott und die Welt verfluchte. Ich versuchte Mutter zu erklären, was die Ärzte uns gesagt hatten… versuchte bei ihr eine Antwort auf meine »Warum??- Frage« zu bekommen… und sie hörte nur geduldig zu. Nach Stunden hatte ich keine Tränen mehr, war all meine Wut los und völlig am Ende… da sah sie mich an… und fing an zu weinen. Ich hab meine Mutter noch nie im Leben so sehr weinen gesehen und mir fiel zum allerersten Mal auf, dass es nicht nur mein Kind war, das Krebs hatte… nein, Giannina war auch Enkelkind, war auch Nichte, war auch Schwester! Sie hat so sehr geweint und ich konnte ihr nicht helfen, sie wollte ihr Leben geben für Giannina… es breche ihr das Herz sagte sie. Nicht einmal 24 Stunden später lag sie tot in meiner Küche!!
Was ich bis heute nicht ertragen kann, ist der Gedanke, dass meine Mutter gestorben ist in dem Glauben, Giannina würde sterben. Sie hatte kein sehr schönes Leben. Sie hatte im Krieg ihre Eltern verloren, war immer am arbeiten und schuften. Sie hatte den Mut, sich von meinem Vater zu trennen, nachdem er sie jahrelang betrogen hatte und zog uns fünf Kinder alleine groß. Endlich, als wir nun alle erwachsen waren, sie so stolz auf ihre Enkelkinder war und ihr Leben liebte… als sie ihre verdiente Rente hatte, da ist sie gestorben… einfach so! Das hat sie nicht verdient… wo war Gott an diesem Abend?

Ich vermisse sie so sehr.

Manchmal kann ich mich nicht mal mehr erinnern, wie sie ausgesehen hat, wie ihre Stimme war. Doch manchmal… manchmal gibt es auch Tage, da ist sie so nah, das es weh tut. An jenem Tag versuchte ich den ganzen Nachmittag Sie anzurufen und habe sie nicht erreicht. Meine Schwester und mein Schwager waren bei uns im Krankenhaus und ich bat meinen Mann noch einmal zu Hause anzurufen. Ich sehe sein Gesicht immer noch vor mir, sehe, wie er sich zu meinem Schwager dreht und ihm etwas zuflüstert. Niemand in diesem Zimmer rührte sich, wir sahen alle nur die beiden Männer an… und dann hob mein Schwager seinen Kopf und sah mich an. Ich weiß noch, wie er auf mich zu kam… ich hab es in seinem Augen gesehen und wollte es nicht hören. Ich bin rückwärts aus diesem Zimmer gelaufen und hab immer »Nein!« gesagt… solange, bis ich mit dem Rücken gegen ein Wand gelaufen bin. Mein Schwager hat mich ganz fest in seine Arme genommen und »Mutti ist tot!« gesagt.

Mir sind die Beine weggerutscht und ich hab schreiend in seinen Armen gehangen… das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Den Rest dieses Tages weiß ich nur von den Erzählungen der anderen.
Sie haben in Giannina`s Zimmer die Fenster versperren lassen und ein herbeigerufene Psychologin hat meiner Schwester gesagt, wenn ich noch einmal in ihrer Gegenwart erwähnen würde, mich umzubringen, dann müsse sie mich einweisen lassen. Der Albtraum nahm wohl erst ein Ende, als sie bereit war, mir Valium zu verabreichen.

Ich hab nie verstanden, wie sich Menschen selbst das Leben nehmen können… heute weiß ich, dass sie nicht mehr Herr ihrer selbst sind, wenn sie so etwas tun. Ich hätte mich in dieser Nacht umbringen können und hätte es nicht bei vollem Bewußtsein getan.

Die anderen Eltern auf der Kinderkrebsstation haben mir sehr geholfen.

Wenn ich sie nicht gehabt hätte, dann würde ich heute nicht da stehen, wo ich jetzt bin. Wir haben uns gegenseitig auf die Beine geholfen. Es ist immer einer dabei, dem geht es gerade in diesem Augenblick ein bißchen besser wie dir und der hilft dir dann. So fängt man an eine Gemeinschaft zu werden. Jedes Kind, das stirbt reißt eine tiefe Wunde in dein Herz. Man sitzt da, leidet mit den Eltern und doch denkt man: Es war nicht meins… es war nicht meins… es war nicht meins…!!
Ich habe so viele Kinder sterben sehen müssen… das reicht für ein ganzes Leben. Niemand zählt die, die es geschafft haben… aus irgendeinem Grund registriert man nur die, die gestorben sind. Ich habe Kinder gesehen, die sind einfach umgefallen und waren tot… Kinder, die in den OP gebracht wurden und nicht wieder kamen… Kinder, die krepiert sind schlimmer wie Tiere und die, die einfach nur vor sich hingestorben sind… wie Mathias. Mathias lag tagelang bei uns auf der Station im künstlichen Koma. Er sah aus, wie ein kleiner Engel. Seine Eltern waren nicht mehr bereit. ihm beim Sterben zu begleiten und so starb er ganz alleine – am 24. Dezember. Ich glaube noch heute, dass er ein Engel war!!
Wir haben Nächte damit verbracht zu weinen, zu trauern und auch zu lachen. Ja, irgendwann haben wir wieder angefangen zu lachen. Irgendwann kommt man da wieder raus!
Wenn wir zu Hause waren, dann waren meine Geschwister unser Halt. Was hätten wir nur ohne sie gemacht? Sie haben zugehört, haben uns in den Arm genommen und haben uns auch manchmal den Kopf wieder gerade gerückt – eben immer so, wie wir es brauchten. Die Geschwister und die Eltern meines Mannes konnten oder wollten nicht mit der Situation umgehen. Sie hatten eh nie ein gutes Verhältnis zu mir und da kommt dann so was schon ganz gut. »Alles Sensibelchen…« können nicht damit umgehen.
Nun ja, jeder wie er es will!

Giannina wurde operiert

und mit etlichen Chemos behandelt. Ach, war meine Dicke tapfer! Sie hat das alles bestens hinter sich gebracht… kotzend, mit Glatze… aber immerhin. Und dann wurde sie entlassen. Man zog es vor, sie danach noch mit Antikörper zu behandeln und diese Therapie konnte sie sogar zeitweise auf der Aufnahmestation über sich ergehen lassen. Das Schöne an der Aufnahmestation war deren Motto: Ob groß, ob klein, bei uns darf jeder rein!! Was dann im Klartext hieß, das Cheleesa Giannina besuchen konnte. Das war die Monate vorher nicht möglich und die beiden genossen es zusammen zu sein.
Im Mai 1998 war Giannina’s letzte Therapie zu Ende und wir warteten auf die Abschlußuntersuchung. Alles würde ein Ende haben. Sie hatte es geschafft! Meine Giannina hatte Doktor Tod einen Lügner gestraft und hatte es geschafft… nur noch diese eine Untersuchung und weg waren wir.
Ultraschall…
UPS! Rückfall… Rezidiv…
tut uns leid!!
Wir hatten noch nicht einmal den Fuß aus der Tür und mußten schon zurück!
Ihre Ärzte waren genauso entsetzt, wie wir. Es fiel ein Wort: Knochenmarkstransplantation!

Zuerst machten sie bei Giannina eine MIGB-Therapie. Alles was sie in die Hand nahm wurde nachher als radioaktiver Müll entsorgt. Ein Elternteil darf während dieser Therapie bei dem Kind im Zimmer sein, abgeschirmt durch ein Wand. Mein Mann hat das gemacht… ich war nicht mehr in der Lage dazu. Immer wenn er das Zimmer verlassen hat, mußte er sich einer Strahlenkontrolle unterziehen. Aber auch das ging zu Ende und es folgte noch eine örtliche Bestrahlung. Ich hätte nicht gedacht, das so viel Aufwand wegen einer Sekunde Bestrahlung gemacht wird. Als die Strahlenleute dabei waren, Giannina eine Schale anzupassen, kam der Oberarzt zu mir und sagte: »Ich hab mir mal die Akte Ihrer Tochter angesehen.

Sind sie sich überhaupt bewußt, das es an ein Wunder grenzt, dass ihre Tochter noch am Leben ist?

Sicher war mir das bewußt… ich kannte doch jemanden, der sein Leben gegeben hatte. Nur das half mir Mutters Tod zu verstehen. Giannina durfte gar nicht sterben, denn das würde ja bedeuten, das meine Mutter nur einfach so gestorben wäre und das… nein, nein… Giannina würde das hier hinter sich bringen!!

Im Sommer 1999 kam dann die KMT. Hatte ich bisher immer geglaubt, dass es nicht schlimmer werden könnte, wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Einmal Hölle und zurück! Mein Kind ist durch die Hölle gegangen… doch auch das hat sie geschafft. Ich glaube, manch Erwachsener könnte sich bei den Kleinen was abgucken. Sie kämpfen bis zum Umfallen… immer weiter, immer weiter! Und auch wenn dieser kleine Mensch nur noch Blutbrocken erbricht, wenn er vor Schmerzen schreit, wenn er den Mund nicht mehr aufmachen kann, weil dieser nur noch ein Klumpen ist und man nicht mehr zwischen Zunge und Zahnfleisch unterscheiden kann… immer weiter, immer weiter!

Irgendwann, Giannina ging es wieder besser, wurden wir zum Ultraschall gebracht. Mittlerweile machte das bei Giannina nur noch der Chefarzt. Nicht, weil seine Kollegen zu dämlich waren einen 20 Zentimeter großen Tumor zu erkennen, der sich durch die Wirbelsäule drückte, neeeeein, nur weil es ihm Spaß machte. Er schallte also Giannina, er links von der Liege, ich rechts. Mit einem mal schaut er hoch, guckt erst das Kind und dann mich an und sagt: «Oh, das ist aber ärgerlich… war ja alles umsonst!! Da ist der Tumor ja immer noch! Das ist aber schade.«
Ich hab zusehen müssen, wie meine knapp 8-jährige Tochter einen Nervenzusammenbruch bekam. Als der Zivi der uns begleitete. und ich sie endlich wieder auf der Station hatten, brach da die Panik aus. Ärzte, Schwestern, Pfleger und ich eingeschlossen versuchten, ein völlig schreiendes und weinendes Kind wieder zu beruhigen. Sie bekam keine Luft mehr und war völlig außer sich, nichts half. Wir haben versucht beruhigend auf sie einzureden, ich hab versucht sie in den Arm zu nehmen, aber sie schlug nur nach mir. Dann kam die Physiotherapeutin der Station. Sie griff sich Giannina, drückte sie an ihre Brust und schrie uns alle an, das Zimmer zu verlassen. Ich weiß immer noch nicht, wie sie es geschafft hat, aber ich nehme mal an, das Giannina keine andere Wahl hatte als in ihrem Griff zu atmen.

2.Rezidiv

Giannina hatte also ihr zweites Rezidiv und wieder einmal kurz bevor die Therapien zu Ende waren. Nach ein paar weiteren Untersuchungen sagten uns die Ärzte, das der Tumor diesmal inoperabel sei.

Bei der ersten OP habe man nur so weit wie möglich an der Wirbelsäule operiert und kein Arzt der Welt würde es wagen, Giannina in die Wirbelsäule zu schneiden. Giannina hat seit der Operation 1999 einen tauben rechten Oberschenkel und das zeigte schon, das bei der OP ein Nerv verletzt worden sei…. zu mehr wären die Chirurgen nicht bereit.

Na, wenn das ein Arzt sagt??

Diesmal nicht!!

Diesmal ging ich zu meinem Hausarzt und redete mit ihm. Ich wollte nicht glauben, dass es auf der ganzen Welt Keinen gab, der sich das zutraute. Meine Güte, wir fliegen ins Weltall und das sollte nicht gehen? Glücklicherweise kannte mein Doc den Chefarzt der Neurochirurgen bei uns im Krankenhaus und er rief ihn auch gleich an. Ich hatte schnell einen Termin bei ihm. Ich sollte mit den MRT– Bildern vorbei kommen. Ich habe mir also die Bilder besorgt und stand dann vor seiner Sekretärin. Der Chef war nicht da, aber sie versprach mir, dass sie ihm die Bilder gleich unter die Nase halten würde, wenn er aus seiner Besprechung wieder zurück sei.
Ich bin also nach Hause und hab gewartet. Als er mich anrief, war er ziemlich komisch am Telefon und es hat eine Weile gedauert, bis wir beide begriffen, was der andere wollte. »Hören sie mal gute Frau« hat er gesagt »diesen Tumor operiert ihnen JEDER Kinderchirurg heraus!« Ich dachte, mir fällt der Hörer aus der Hand. Der nächsten Arzt, den ich vor mir hatte, war der Chefarzt der KMT-Leute. Ich habe diesen Mann genau 2 Sekunden sprachlos gesehen…
dann hatte er seine Fassung wieder und er sagte:

»Verstehen sie nicht? Es spielt keine Rolle, ob wir Giannina operieren oder nicht…
sie wird sterben!«

Böser Fehler… leg dich nicht mit mir an. Mein Mann und ich haben dann so sehr darum gekämpft, dass Giannina operiert wird, dass ihm keine andere Möglichkeit blieb, als hinter uns zu stehen. Seine Stationsärzte haben ihm gesagt, dass wir die Klinik verlassen würden und uns notfalls eine andere suchen, damit Giannina operiert wird. Er hat dann einen Termin mit den Kinderchirurgen gemacht…
auch denen musste ich erklären, WARUM wir wollten dass sie operiert wird. Ich selbst kann das heute nicht mal mehr so genau erklären… ich wußte nur, dass dies der richtige Weg war.

Gutartiger Tumor

Sie haben Giannina dann einen GUTARTIGEN Tumor, ein Ganglioneurom entfernt und selbst Mister Oberchef war von den Socken! Diesmal konnten wir nach Hause… endlich!
Es gibt von Nena ein Lied »Wunder geschehen«. Es gab eine Zeit, da hab ich bei dem Lied weinen müssen. Ich hab mir so sehr gewünscht, dass auch ich ein Wunder gesehen habe, bis Anfang 2002 die Schmerzen in den Beinen wieder kamen. Ich hab Giannina immer wieder ins Krankenhaus gebracht. Sie haben uns gesagt, das sei eben dieses Nervenleiden und dass sie damit Leben müsse.
Im November hab ich sie der Ärztin auf den Tisch gesetzt und gesagt, dass ich sie erst wieder mitnehme, wenn sie was gegen die Schmerzen unternimmt. Das haben sie dann auch getan. Sie haben ein MRT vom rechten Bein gemacht: Rezidiv – diesmal im rechten Oberschenkel!

Giannina ist austherapiert.. .

so nennt sich das! Palliativpatient, um es fachärztlicher auszudrücken.
Meine Tochter hat jetzt gerade eine Versuchstherapie hinter sich, die sie sehr gut vertragen hat.
Niemand weiß, wie und ob sie überhaupt geholfen hat. Das stellt sich dann erst nächste Woche raus.

Seltsam, aber…
Er ist wieder da – mein Glaube an Gott…
würde ich sonst beten?

Ich habe in den letzten Jahren meine Ehe kaputt gemacht. Meine Schwiegermutter hat zu mir gesagt: »Kind? Man hört doch nicht einfach auf zu lieben!?«
Sicherlich tut man das nicht…
ich hab es auch nicht von heute auf morgen getan. Wir haben irgendwann angefangen, unterschiedlich zu leiden. Das hat unsere Ehe kaputt gemacht. Männer gehen anders mit der Angst um…. meiner zumindest. Es war für ihn kein Thema. Aus und Punkt!!

Das Einzige, was man mir vorhalten kann, ist dass ich nicht um meine Ehe gekämpft habe. Er hat es aber auch nicht getan… wahrscheinlich waren wir beide zu müde. Ich weiß es nicht….?? Ich habe die letzten 6 Jahre mit Angst leben müssen… mit der Angst, dass mein Kind sterben könnte. Ich kann nicht damit Leben zu wissen, dass sie stirbt.

6 Jahre Angst…
manchmal bin ich zu müde zum Kämpfen!!

Danke, dass ich erzählen durfte…

Gianninas Mutter

Nachtrag

Diese Versuchstherapie, die Giannina letztes Jahr bekommen hat, war nicht in der Lage, den Krebs zu besiegen, sie hat ihn nur aufgehalten. Ende November 2003 ist sie dann noch einmal bestrahlt worden und nun…?

Nun müssen wir warten! Anfang nächstes Jahr sollen erst wieder einige Untersuchungen gemacht werden. Alles was vorher gemacht würde sei zu früh, sagte man mir. Giannina geht es im Moment gut. Sie besucht die Schule, ärgert ihre Schwester, spielt und tobt… sie verbringt viel Zeit damit Kind zu sein. Aber es kommt auch vor, das es ihr an manchen Tagen nicht so gut geht und in mir steigt wieder meine Angst empor. 6 Jahre? Ist es wirklich schon wieder ein ganzes Jahr her? Mir wird immer gesagt, das die Zeit die wir mit Giannina verbringen dürfen geschenkte Zeit ist, das wir sie genießen sollen, nur warum rennt sie SO schnell? Ich würde meinem Kind so gerne alle ihre Wünsche erfüllen, aber mir fehlt die Zeit dazu. Wie erfüllt man die Träume eines ganzen Lebens in ein paar geschenkte Momente?

HEUTE!

Heute war ein guter Tag… nicht perfekt, aber gut. Wenn ich gleich im Bett liegen werde, dann werde ich dafür dankbar sein und morgen früh, wenn die Sonne aufgeht (und das wird sie) dann wird ein neuer Tag beginnen. Ein Tag, der gut sein wird…
ich werde es wissen, wenn ich wieder im Bett liegen werde, um auf den nächsten Sonnenaufgang zu warten.
Es wird Menschen geben, die das Leben nennen würden…
ich nenne es:

Warten auf ein Wunder!

Diese Ergänzung sandte uns Gianninas Mutter am 10.11.2004

Nachtrag 2

Giannina ist am 25. Juni 2005 gestorben!

Sie war blind, voller Tumoren, konnte sich nicht mehr bewegen und kaum noch sprechen und hat trotzdem gekämpft wie ein Löwe. Mein Gott, wo hat dieses Kind nur all diese Kraft hergenommen? Schon lange nicht mehr für sich selbst, sondern für all die, die sie liebten.

Unser Wunder?

Ich habe erkannt, dass mein Wunder darin bestand dieses besondere Kind eine kleine Weile bei mir zu haben. Sie ist erst gegangen nachdem ich ihr sagte das sie loslassen soll; dass sie keine Angst haben soll, weil Oma auf sie wartet und sie immer bei mir sein wird. Sie ist in meinem Arm gegangen. ganz still und leise hat sie einfach aufgehört zu atmen.

Ich liebe dich mein Engel… wir sehen uns wieder!!

Diese Ergänzung sandte uns Gianninas Mutter am 02.10.2005

Nachtrag 3

Hallo…
Ich war lange nicht mehr hier auf diesen Seiten und mit Abstand im Herzen muss ich heute wohl sagen, dass ich nun manches doch in einem etwas anderen Licht sehe.
Heute weiß ich zum Beispiel, dass Gianninas Ärzte alles getan haben um ihr Leben zu retten. Es ist nicht wirklich fair von mir… ich muss wohl um Nachsicht bitten… aber im Schmerz tut es so gut einen »Schuldigen« für all dieses Leiden zu haben, das man (ich) blind durch die Welt läuft.

Es ist nun fast ein Jahr her, das Giannina uns verlassen hat und doch ist sie ist so sehr in unserer Nähe, das ich das Gefühl habe ihre Kraft und ihre Liebe regelrecht spüren zu können. Dieses Gefühl ist es, was mich jeden Morgen aufstehen und meinen Tag erleben lässt. Nein, es wird nicht leichter… manche Wunden heilen nicht… aber immer wenn ich denke ich würde es nicht schaffen, fühle ich tief in mich hinein und ich bin mir SO sicher, das sie nicht gewollt hätte das ich aufgeben.
Und darum möchte ich all denjenigen, die das hier lesen und die auf meiner Seite des Lebens stehen etwas mitteilen:

Genießt jeden Augenblick mit eurem Kind… jede verdammte einzelne Sekunde!

Lebt im Heute!

Lebt für diesen einen Moment!

Vielleicht kommt der Tag an dem ihr es loslassen müsst… vielleicht hat alles kämpfen keinen Sinn, aber genau dieser Moment ist alles was euch bleibt und was euch am Leben erhält, wenn es gehen muss.
Ich trage Giannina in mir… in meinem Herzen und in meiner Seele, in jedem Augenblick ist sie bei mir und ich wünsche allen von ganzem Herzen ein klein wenig von ihrer Kraft…
gebt die Hoffnung NIEMALS auf!

Diese Ergänzung sandte uns Gianninas Mutter am 22..05.2006